SCHWARZ – Lese- und Hörproben
© Kai Grehn
17 SEKUNDEN
Versuchen Sie sich vorzustellen, Sie verkommen in einem Pariser Straßencafe, vor sich eine Tasse schwarzen Tee oder noch schwärzeren Kaffee. Der eigenen Trägheit hingegeben sinnieren Sie über das miserable Spiel Ihres Fußballvereins, über die Zahlenkombination für Ihren nächsten Lottoschein oder über die von der Mode überrannten Dinosaurier…
Doch welche Taktlosigkeit! Die Kellnerin, die eben noch begehrenswert erschien, platziert einen Indianer zu Ihnen an den Tisch. Er wolle sich nicht aufdrängen, sagt der Indianer und hält Ihnen dabei sein Jagdmesser an die Kehle, die Kellnerin habe ihn aber zu diesem Tisch geführt, und folglich, das werde erwartet von einer Rothaut wie ihm, müsse er Sie jetzt skalpieren. Es sei denn, Sie seien in der Lage, ihm innerhalb der nächsten 17 Sekunden ein einziges Argument zu präsentieren, weshalb eine durch und durch larvale Existenz, wie Sie ja eine darzustellen scheinen, weiter unter dieser Sonne wandeln sollte.
Vorerst, so sagte der Indianer, wäre das von seiner Seite alles.
SCHÖNHEIT
„Schönheit“, sagte sie, als sie gegen das Betäubungsmittelgesetz mittels Einnahme illegaler Substanzen verstieß, „also wirkliche Schönheit existiert nur in der Bewegung.“
Mit diesen Worten setzte sie sich hinter das Lenkrad ihres Fahrmobils und jenen Indianern, die am Hals ihrer Pferde durch grenzenlose, grasbewachsene Weite sprengen (im Galopp, versteht sich), jenen Indianern also nicht ganz unähnlich, fuhr sie sieben Stunden im Kreisverkehr, immer um die Siegessäule.
ONCE IN A BLUE MOON
Er weilte in einer Landschaft deutscher Bunker, am Schlund einer grundlosen Tiefe, als eine Schönheit, ein Wesen voller Leben neben ihm erschien…
Er fragte: „Bist du ein Engel?“
Und es sagte: „Ich bin ein Engel.“
Er fragte: „Kannst du fliegen?“
Und es sagte: „Ich kann fliegen.“
Er fragte: „Kannst du mich fortbringen von hier.“
Und es sagte: „Ja. Selbstverständlich kann ich dich fortbringen von hier.“
Und sie stellten sich Hand in Hand an den Rand der Tiefe. Und sie sprangen.
Das Wesen fragte: „Wußtest du nicht, daß ich eine Lügnerin bin?“
Und er sagte: „Ich wußte sehr wohl, daß du eine Lügnerin bist.“
Dann fiel er hinab.
HIMMELFAHRTSSTRASSE
Seit drei Generationen wurde in der Schmiede das Eisen geschmiedet, solange es noch glühte. Seit drei Generationen diente den Schmieden als Behelfsamboß die Attrappe einer Artillerie-Granate. Die Geschäfte gingen ausgezeichnet, das Unternehmen expandierte, als beim schmieden eines 7-Zoll-Nagels die Granate explodierte. Dort, wo einst die Schmiede stand, klafft nun ein tiefes Loch.
SCHWARZ
Oder die Frage: Wie gelangte dieses stolze Schiff mitten in den Regenwald? Offensichtlich gestrandet, daran ist abnormes nicht. Dergleichen geschieht und gibt es keine Opfer zu beklagen, geschieht dergleichen ohne vieles Aufsehen. Aber hier, im Dickicht tropischer Gewächse? Welch sirenengepeitschter Sturm sollte einen Dreimaster hierher verschlagen? Makellos, der hölzerne Bauch des Schiffes, keine Zeichen äußerer Gewalteinwirkung oder… hatten die Seefahrer sich nur verirrt? (Wie schnell geschieht dergleichen, wenn wir tagträumend durch eine Welt wanken, die nicht die unsere ist.) Verfolgten sie ein außergewöhnlich schönes Tier und erkannten im Fieber der Jagd nicht, wohin die Fahrt sie führte? Was sonst sollte sie getrieben haben zu dieser arg fragwürdigen Tat? Vielleicht war die Präzision des Kompasses eher mangelhaft und er zeigte, scheinbar unerheblich, bemessen auf die Länge der Reise, eine allerdings nicht zu vernachlässigende Abweichung an vom Kurs? Oder waren sie am Ende einfach eingeschlafen? Erschöpft vom ewigen Sturz der Wellen schliefen sie durch, drei Tage und drei Nächte lang und erwachten unter grünem Blätterdach?
Möglicherweise hatte es die Seefahrer aber auch auf eine Tropenexpedition verschlagen, zu Fuß, die Machete in der Hand. (Sogar dergleichen hin und wieder geschieht.) Mitten im Dickicht befiel sie jedoch kohlpechrabenschwarze Sehnsucht nach dem Geist des großen Sees. Und stehenden Fußes, Knall und Fall, begannen sie mit dem Bau des Schiffes. Was anderes hätte ein Dreimaster von solch ungeheuerlichen Ausmaßen mitten im Regenwald verloren?
(Die Tonaufnahmen sind während einer Lesung anläßlich der Eröffnungstage des Wolfgang Koeppen Literatur-Hauses in Greifswald mitgeschnitten worden. Die (Live-)Musik zur Lesung wurde von Kai-Uwe Kohlschmidt und Z.A.P. eingespielt.)
Sound-Bonus:
LEIPZIGER LITANEI
(Recording einer Performance-Lesung im Rahmen des Leipziger Literarischen Herbstes.
(Live-)Musik: Kohlschmidt/ ZAP.)