berg-leseprobe
Foto © Simon Hallström, 2009

Kai Grehn DER BERG, ÜBER DEN KEIN VOGEL FLIEGT – Theater Basel

Uraufführung am 25.02.2009

Hermann: Vincent Leittersdorf
Dakini: Inga Eickemeier
Expeditionsleiter: Wolf Lutz, Stimme Steve Karier
Toter Seilpartner: Oliver Zgorelec, Stimme Pascal Lalo
Zwei Japaner: Oliver Amweg, Satoshi Ito

Regie: Marie Bues
Bühne: Philipp Berweger
Kostüme: Anna von Zerboni
Licht: Roland Edrich
Musik: TARWATER
Sound: Lorenz Schuster
Dramaturgie: Martina Grohmann
Koproduktion mit dem SWR
Doppel-Uraufführung mit dem Badischen Staatstheater Karlsruhe

„Der Albtraum ist für ihn wahr geworden: Bergsteiger Hermann liegt verletzt auf einer Felsplatte, 7000 Meter über dem Meer. Gefangen, einsam, durstig, unter Schmerzen und Sauerstoffmangel beginnt er Stimmen zu hören. Und so redet er mit Menschen aus seiner Vergangenheit, mit sich selbst, mit seinen Erinnerungen und Geistern. Aufhören zu reden, heisst wohl sterben, und so bleiben sie, die Stimmen.
Man ist eben nur «Gast im Gebirge, der Berg bestimmt die Regeln», heisst es lakonisch im Stück von Kai Grehn. Er hat das «unromantische Bergsteigerdrama» nach eigenen Erlebnissen während einer Himalaya-Expedition geschrieben. Resultat ist ein packendes, poetisches und schonungsloses Geflecht aus Gedanken und Ängsten, eine Montage aus Fragmenten über Leben, die Bereitschaft alles zu verlieren und das Bedürfnis, einen Gipfel zu erreichen. Und der liegt nicht immer in den Bergen.
In der Inszenierung fürs Foyer des Schauspielhauses wird der Überlebenskampf der Hauptfigur lebendig. Vincent Leittersdorf kauert als Hermann auf einem Felsvorsprung, von echten Eisblöcken eingekeilt. Hinter ihm das Glas des Hauses, das den Blick aufs Basler Strassengewimmel freigibt. Wie eine Membran zwischen innen und aussen, Realität und Traum. Leittersdorf spielt, als gäbe es kein Morgen, mit vollem körperlichen Einsatz (klettert sogar die Fassade des Schauspielhauses hinauf) und bringt in seinem nuancierten Spiel die Figur wahrhaft zum Leuchten.
Um ihn kreist die Gesamtinstallation aus Raum und Sound: Das wunderbar feine Tondesign aus Stimmen, Musik, Wind und Livegeräuschen erzeugt einen Rhythmus der Atmosphären. Als Zuschauer wird man in die Eingeweide des Schauspielhauses entführt, steigt mit Tee versorgt einem gut gelaunten Bergführer hiemnterher, bis man den Gipfel (Dach) erreicht. So macht die Inszenierung von Marie Bues und Philipp Berweger (Bühne) den Theaterabend selbst zu einem Erlebnis – mit viel Augenzwinkern. Und auch mit einer gehörigen Portion Ernst. Schliesslich geht es beim Bergsteigen und im Theater immer um eins: um Leben und Tod.“

(Maren Butte, Baseler Zeitung, 27.02.2009)

„Die Todeszone beginnt auf der Höhe des Schnürbodens. Die Zuschauer steigen in Gruppen die Treppen hoch, dem Bergführer hinterher, ins erste Basislager, vorbei an der Maske, am Aufenthaltsraum der Technik.
Auf 6000 Metern befinde man sich jetzt, verkündet eine Schrift an der Wand, der Wind rauscht aus versteckten Boxen, die Luft wird nicht dünner und riecht nach warmem Theaterstaub. Durch eine niedrige Tür geht’s hinaus auf die Dachterasse; dort verneigt sich ein alter Japaner und schießt ein Polaroid („cheese“) des Publikums vor dem Gipfelkreuz.
Soweit das Vorspiel; dann beginnt der Abstieg ins Foyer des Basler Schauspielhauses zum eigentlichen Spielort. Der ist ein schmaler Durchgangsraum mit Wartezimmer-Atmosphäre, und umso mehr überzeugt, wie er hier genutzt wird (Bühne: Philipp Berweger): Das Publikum sitzt vor der breiten Fensterfront, schaut raus auf die Straße. Trockennebel wabert über den Boden; aus einem Walkie-Talkie quäkt verzerrt der Satz: „Scheisse, das also ist der Tod“. Und dann bleibt es lange still.
Bis Vincent Leittersdorff als Hermann beginnt, sich selbst beim Namen zu rufen. Hoch oben auf einer schmalen Plattform sitzt er, unbequem an eine Betonsäule gelehnt, auf seinem Bein liegt ein großer Eisblock. (Ja, er wird irgendwann herunterkrachen und zersplittern.) Ein Absturz hat sein Bewusstsein vernebelt, er deliriert im Zwischenreich, wo sich Leben und Tod schon berühren.
Wie so oft, wenn Texte in den Bergen spielen, geht’s um existentielle Fragen: Weshalb will der Mensch nach oben, warum riskiert er alles für die Eroberung des Nutzlosen? Wie egoistisch wird er bei der Suche nach ein paar Sekunden Glück? Und warum hört er nicht auf zu hoffen, selbst wenn seine Lage aussichtslos scheint?
Kai Grehn, bisher vor allem als Hörspielautor bekannt, legt sein Gebirgsdrama als inneren Monolog an, durchbrochen von wenigen Nebenfiguren. (Wie man in einer Videostation erfährt, gab eine Expedition im Himalaya, bei der einer seiner Kollegen verunglückt ist, den Anstoss zum Schreiben.) Doch Grehn verfällt nicht in einen markig-rauen Berg-Jargon, sondern setzt dem Thema eine lyrisch überhöhte Sprache entgegen. „Schneeanker an weisse Krähe: Kommen…“
Die Stimme schnarrt aus dem Funkgerät, und da erst entdeckt man, zu wem sie gehört: Auf der anderen Straßenseite, jenseits des Glasfensters, sitzt der Expeditionsleiter gemütlich im Sessel, eine Tasse aus dem Thermos in der Hand, neben einem leuchtenden Globus. Doch die Welt ist schon weit weggerückt für Hermann; die Scheibe und Halluzinationen trennen ihn von allem, was da draußen geschieht. Befangen zuerst, und im Verlauf des Abends immer freier und nuancierter, spricht er gegen das Ausgeliefertsein an.
Nach und nach tauchen Gestalten aus seinem Lebensfilm auf: Ein toter Seilpartner baumelt im Klettergurt vor der Theaterfassade und spricht über Hilfe, die nicht kommt. Zwei Japaner fragen nach dem „way to the top“ und ziehen zielstrebig am Verletzten vorbei in Richtung Gipfel. Zufällig vorbeikommende Passanten wundern sich und bleiben stehen, ab und zu fährt eine Straßenbahn vorüber. Dann bremst ein Mini vor dem Eingang, eine Journalistin will ein Interview – wie Vincent Leittersdorf und Inga Eickemeier über die Sinnfrage und aneinander vorbei reden, er kurz vor dem Verdursten, sie mit dem dampfenden Starbucks-Becher in der Hand und beide mit einer ironischen Distanz zu ihren Rollen, gibt dem Abend eine Leichtfüßigkeit, die den manchmal pathetischen Stellen die Spitze bricht.
Wie Marie Bues in ihrer Regie Außen- und Innenwelt zusammenführt, trifft die Form dieses Texts, der zugleich als Theaterstück und als Hörspiel angelegt ist (Koproduktion mit dem SWR). Formal präzise und mit dem Mut zu stillen Momenten inszeniert sie das Prinzip Hoffnung am Ende einer großen Freiheitssuche, während das Nichts näher rückt. Das Eis auf Hermanns Knien tropft und wird weniger. Ein letzter Funkspruch. Over and out.“

(Irene Grüter, Nachtkritik.de, 26.02.2009)